03 Juni 2007

Sterneck - der innere Raum

bild: © mimmax
”Während nur ein äußerer Raum existiert, gibt es so viele innere Räume, wie es Menschen gibt.”
Albert Hofmann

Ein schlafender Mensch liegt mehr oder weniger bewegungslos da. Sein Atem ist langsam, seine Augen sind geschlossen. Er steht nicht, er geht nicht, er spricht nicht, er ißt nicht, er trinkt nicht - und doch erlebt er viel. Er fliegt oder schwimmt, wird gemartert und kämpft, liebt einen Engel, tanzt mit Dämonen, hält Reden, spaziert über den Regenbogen, schlägt sich durch den Dschungel, fährt Fahrrad, unterhält sich mit Verstorbenen und Unbekannten, lacht und scherzt mit Freunden, erfährt sich als Kind, Tier oder Geist, verliert die Zähne. Er träumt. Der Traum ist das bewußte Erleben des inneren Raums des Schlafenden.

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Ein schamanisierender Mensch verdreht die Augen, wirft sich zu Boden, vibriert, hat Muskelzuckungen, wispert in unmenschlichen Stimmen, stammelt in unbekannten Sprachen, schneidet Grimassen. Ihm tritt der Schaum vor den Mund, die Schweißperlen auf die Stirn. Er sieht wie ein Sterbender aus, ähnelt einem Epileptiker. Er hat den Kontakt zu den Menschen verloren - und doch hilft er ihnen. Er hat sich von der gewöhnlich sichtbaren Welt verabschiedet. Er taumelt durch unendliche Tunnel, schroffe Schluchten, kämpft mit Wirbelstürmen und explodierenden Felsen. Ein Vulkan verschlingt ihn, durchspült ihn mit Lava und speiht ihn wieder aus. Mächtige Blöcke zerstampfen ihn. Das Fleisch wird ihm abgerissen, die Knochen seines Skelettes zerspalten. Sein zerstäubendes Mark verdampft im Strudel der alles zermalmenden Unterwelt.
Die Feuer peitschen, die Fratzen lachen - die Myriaden Teilchen seines ehemaligen Selbst beginnen zu leuchten, sublimieren, steigen durch lichterfüllte Schächte auf in wolkige Höhen, verdichten sich zu einer Wolke, nehmen neue Gestalt an. Er wird ein Fisch, ein Adler, ein Jaguar. Mit leichten Tatzen tänzelt er über blauschimmernde Milchstraßen. Ein Licht lockt ihn, zieht ihn an. Ein Wesen aus Licht, strahlend in allen Farben des Regenbogens, in sich die Elemente aller Wesen bergend, begrüßt ihn. Das Lichtwesen spricht zu ihm, lehrt ihn die Geheimnisse der Pflanzen, Tiere, Minerale, enthüllt ihm das ultimale Wissen, zeigt ihm die Wege, wie er künftig die verlorenen Seelen der Kranken finden und auf die Erde zurückbringen kann. Er bekommt ein Geschenk: ein magisches Objekt, das er mit in die gewöhnlich sichtbare Welt nehmen darf, und das ihm als Schlüssel für zukünftige Schamanenreisen dient. Der schamanisierende Mensch ist ein Bewußtseinskünstler, er ist ein Eingeweihter in die Geheimnisse und Offenbarungen des inneren Raumes.
Ein psychedelisierender Mensch sitzt oder liegt, tanzt oder rollt, lacht oder weint, erschauert und hat glänzende Augen. Man kann mit ihm sprechen, ihn berühren oder umarmen. Er kann wie im täglichen Leben reagieren oder nur tatenlos staunen, er kann philosophische Erkenntnisse aussprechen oder unverständliches Gebrabbel von sich geben. Er bleibt für alle Menschen sichtbar, selbst wenn sie für ihn zu unsichtbaren Schemen verblassen. Er geht in sich, betritt dort eine Welt, die vorher nicht wahrnehmbar war. Er fühlt sich in dieser neuen Welt zuhause; denn sie ist sein eigener innerer Raum, der sich als unerschöpflich reiches Universum in immer neuer wunderbarer Unendlichkeit entfaltet. Der neue Raum wird zur Offenbarung für seinen Träger. Er läßt sich darin nieder, bestaunt die Welten, kommuniziert mit Wesen anderer Wirklichkeiten. Er sieht Geliebtes und erschaut Bedrohliches; und erkennt, daß alles seine Berechtigung und Bedeutung hat. Er nimmt sich selbst wahr - aber aus völlig neuer Perspektive: er ist eine Zelle seines Körpers oder gar nur ein Atom. Er sieht seine inneren Organe, sein eigenes Skelett.
Da zerfällt das Fleisch, tropft wie von Säure zerfressen von den Knochen, die als riesige Firstbalken eines anderen Universums wirken. Der Tod nimmt das Leben von den Balken, breitet sich aus im grenzenlosen Raum. Ein Skelett sitzt im Lotussitz, verweilt im Nichts. In der Gegend, wo beim Lebenden der Bauchnabel liegt, züngelt ein Flämmchen; es wird zum Feuerball, dem zuckende Blitze entfahren. Der brodelnde und leuchtende Ball wird zu einem Fluß, einem Strom, komponiert aus allen Ideen, Gedanken, Gefühlen, Bildern und Vorstellungen des Universums. Wie mit einer gewaltigen Flutwelle braust der Fluß durch den Brustkorb und schießt in den leeren Schädel. Gewaltige Energien quillen aus dem Kopf heraus und übergießen das alte Skelett mit neuem Leben. Ein Lichtglanz umhüllt einen vollendeten Körper, dessen Schönheit das leuchtende Universum mit blitzendem Licht durchflutet. Eine riesige Hand, gebettet in flauschigen und bläulich-rosa schillernden Wolken, treibt heran. Der neuerstandene Mensch sitzt auf der Hand. Er wird immer höher getragen. Der grenzenlose Raum leuchtet zunächst bräunlich, dann in sattem Indischgelb. Das Universum lacht, ist vereinigt mit dem Wesen, das es wahrnehmen kann, und erstrahlt in höchster Seligkeit. Dieser Augenblick von Ekstase und Erleuchtung des inneren Raumes bleibt als Erinnerung an die Ewigkeit zurück.
Träumen, Schamanisieren und psychedelische Erfahrungen sind Tore zum inneren Raum: ”Mit dem inneren Raum ist das Bewußtsein gemeint. Das Bewußtsein entzieht sich einer wissenschaftlichen Definition, denn es ist das, was ich brauche, um darüber nachzudenken, was Bewußtsein ist. Es kann nur umschrieben werden als rezeptives und kreatives geistiges Zentrum des Ichs.” (Albert Hofmann). Durch diese Tore zu inneren Räumen kann der Mensch Bereiche betreten, die in der sinnlich wahrnehmbaren Welt des Wachbewußtseins verschlossen bleiben.
In den Kulturen der Naturvölker und in den archaischen Religionen werden Träume als Erlebnisse in anderen Wirklichkeiten erfahren. Mit Systemen der Traumdeutung wird dieser Wirklichkeit Struktur verliehen. Mit der kulturell geförderten Traumarbeit wird diese andere Wirklichkeit des Schlafens erforscht und gedeutet. Die Schamanen der Naturvölker, die Seher archaischer Kulte und die Mystiker verschiedenster Religionen sind professionelle Erforscher anderer Wirklichkeiten, die sie sich mit bestimmten Techniken erschließen. Schamanen, Seher oder Mystiker erleben den inneren Raum nicht als ein dunkles Loch, sondern als ein unendliches Universum unbegreiflicher Vielfalt und unermeßlichen Reichtums. Tore zu diesem Universum sind Yoga, Meditation, Fasten, Visionssuche, Geißelung, ekstatischer Tanz, Langlauf, Deprivation und die Einnahme heiliger Pflanzen oder psychedelischer Drogen.
In vielen alten Kulturen werden bewußtseinsverändernde oder psychedelische Pflanzen als heilig betrachtet oder mit Göttern assoziiert. Auch unsere keltisch-germanischen Ahnen verehrten und benutzten die heiligen Pflanzen als Werkzeuge der Erkenntnis, als Brücken zu den Göttern. Psychedelische Drogen haben eine lange Geschichte als Heilmittel. Indianer sprechen ihren heiligen Pflanzen (Peyote, Zauberpilze, Ayahuasca) eine besondere Heilkraft zu. Sie heilt den Menschen als ganzes, daß heißt sie bringt ihn mit seiner Umwelt in Einklang und ermöglicht ihm beglückende Erlebnisse.
Viele Dichter und Schriftsteller haben - oft mit Hilfe von psychedelischen Drogen - die inneren Räume erforscht. Novalis, Baudelaire, H. P. Lovecraft, Hermann Hesse und Aldous Huxley haben mit ihren Hymnen, Gedichten und phantastischen Erzählungen Tore geöffnet, durch die eine Welt glitzert, die sonst nur Schamanen und Mystikern zugänglich ist. Ebensolche Möglichkeiten wurden von Künstlern geschaffen. Die Bilder des Hieronymus Bosch gleichen den Welten, die sich bei psychedelischen Sitzungen manifestieren. Viele Maler haben ihre inneren Räume visuell sichtbar gemacht. In ihren Gemälden tauchen häufig images und Symbole auf, die auch bei LSD-Sitzungen wahrgenommen werden.
Mit der sensationellen Entdeckung der psychedelischen Eigenschaften des LSD durch Albert Hofmann wurde die moderne Erforschung des Bewußtseins auf einer bisher ungeahnten Ebene ermöglicht. Durch die panische Reaktion der Regierungen und Medien auf den psychedelischen Aufbruch in den sechziger Jahren ist dieser neuen Möglichkeit der Erforschung des größten Mysteriums des Universums, nämlich des Bewußtseins, ein viel zu jähes Ende bereitet worden. Die anfängliche wissenschaftliche Begeisterung wurde durch Massenmedien, gesellschaftliche Tabuisierung, administrative Komplikationen und politische Maßnahmen erstickt. Aber nach den Entdeckungen der modernen Biochemie, der Kulturanthropologie und der transpersonalen Psychologie hat die psychedelische Forschung neuen Aufschwung erlebt.
Die westliche Kultur hat den ehemals visionären Menschen, so H. P. Lovecraft, ”an die Kette der realen Dinge gelegt, und dann das Wirken jener Dinge solange erklärt, bis das Mysterium aus der Welt verschwunden war”. Aber seit sich neue Tore zu inneren Räumen geöffnet haben, wird eine mystische Verschmelzung mit dem Universum wieder möglich.
Aus: Christian Rätsch (Hg.) / Die Erforschung des inneren Raumes (1992).