31 Mai 2007

Die Krümmung der Gurke

Inhalt

I. Schulwelt
Ist Dummheit immer noch lernbar? Erwachsene, die der Nachsicht bedürfen. Etwas über Autorität. Der richtige Mensch an den richtigen Platz. Über Selektion. Lieber reich und gescheit als arm und krank. Anmerkungen zur Debatte über Hochbegabung. ‹Gesundheit ist eine Stoffwechselerkrankung›. Einige Bemerkungen über Normalität und Fehlerhaftigkeit. Schliesslich: Die offene Frage

II. Märtplatz
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans im Glück. Orange oder Matratze oder Was machen wir anders als andere und warum? Von Entenrennen und anderen närrischen Dingen. Die GZS-Methode. Ein Bisschen Lebenshilfe. Traktat über Drogen. Sélection Märtplatz. «Ja, ich arbeite wirklich gerne so.» Der Märtplatz im Urteil der Lehrlinge. Wie so ein Erfolg zustande kommt. Von Statistiken. Atelier A

III. ‹Arbeits›welt
Arbeit: Mues Schaffe en Chrampf sii? Keine Arbeit oder Über den diskreten Charme der Frührente. Erwerbslosigkeit als Einnahmequelle. Arbeit mit Krücken oder Vom Unsinn der Substitution von Arbeitsplätzen. Ein seltsames Tier: der politische Wille




Reflektierte Praxis – praxisrelevante Reflexion | Das könnte als Motto über diesem Buch stehen. Es klingt beeindruckend. Und kein Wort Deutsch ist dabei. Aber der enge Zusammenhang zwischen Denken und Tun ist wichtig. Denn meist fehlt es, nach einem Wort des Kultursoziologen Wolfgang Engler, «... an der Entschlossenheit, die Dinge nicht nur beim Namen zu nennen, sondern auch beim Schopf zu packen.» Oder, andersherum: Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben und die unverständlich auszudrücken; man muss auch unwillens sein, sie umzusetzen. Das neue Kompendium – 30 Jahre nach ‹Dummheit ist lernbar› – ist zugleich ein Buch über die Schulwelt und über den Märtplatz im Zürcher Unterland. Und es ist auch eines über die Arbeitswelt, in die Schüler und MärtplätzlerInnen hineinwachsen. Was passiert später mit den unhandlichen jungen Leuten? Was passiert mit all denen, die nicht stapelbar sind?

Ist Dummheit immer noch lernbar? | Ja. Mein erstes Buch, die ‹Dummheit›, erschien 1976. Es berichtete von ‹Schulversagern›, von Kindern, an denen die Schule versagt hatte. Damals sassen rund 4 Prozent aller Schulkinder in Sonderklassen. Heute sind es 6,2 Prozent. Man nennt das Schulentwicklung. Das Buch, ältere Semester erinnern sich vielleicht, wurde ein Erfolg. Das lag sicher zu einem Teil am Titel. Aber das Interesse ging weit über den Titel hinaus. Stapel von Briefen bewiesen es. Unzählige fühlten sich mitbetroffen vom Leid einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Kindern. Immer wieder stand da: Ich selber war kein Sonderschüler, aber ich habe diesen Schmerz auch erlebt. Ein deutscher Medizinprofessor im Ruhestand schrieb, er habe zwar den Zweiten Weltkrieg mitgemacht, aber seine Albträume handelten nach wie vor von der Schulzeit. Offenbar war etwas zur Sprache gekommen, das viele Leute bewegte. Die Resultate sind ergreifend: «Es genügt, den Vornamen eines Kindes von ‹typisch Oberschicht› (Mike) zu ‹typisch Unterschicht› (Anton) sowie die soziale Stellung seines Vaters zu ändern, und prompt wird es eher in eine Sonderklasse versetzt statt ambulant heilpädagogisch gefördert. Und es genügt, den Vornamen eines Kindes von ‹typisch schweizerisch› (Lukas) zu ‹typisch albanisch› (Bekir) sowie die ethnische Zugehörigkeit seiner Familie zu ändern, und siehe da: Das Kind wird eher in einer Sonderschule für Lernende mit Verhaltensauffälligkeiten platziert und nicht für eine Beratung oder für eine Therapie angemeldet.» Sehr viel scheint sich seit Anno Dummheit nicht verändert zu haben.

Exkurs über die Zukunft der sozialen Arbeit | Die Menschen hierzulande lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Da sind einmal die Überflieger. Sie sind qualifiziert, dynamisch, teamfähig. Sie klettern auf der nach oben offenen Qualifikationsskala von Diplom zu Nachdiplom und von dort zu Zusatz- und Nebenqualifikationen. Ihre Dynamik zeigt sich darin, dass sie für ihr Unternehmen jederzeit jede Arbeit übernehmen, die ihrer Qualifikation einigermassen entspricht, notfalls auch zu Abendstunden und an Wochenenden. Und teamfähig sind sie mit jener oberflächlichen Freundlichkeit, welche das Arbeitsklima fördert, aber keinesfalls die Dynamik hemmt. Ihre spärlich und unregelmässig anfallende Freizeit verbringen sie mit Familienpflege und anderen Extremsportarten, keltischer Mystik und Fun. Bei dieser ganzen Überfliegerei drohen zwei Gefahren: Es kann ihnen bei der Arbeit der Treibstoff ausgehen, oder es können alters- und anderswie bedingte Verschleisserscheinungen und Materialfehler auftreten. Dann stürzen sie ab wie Börsenkurse und bleiben am Boden wie die Swissair-Flugzeuge.

Ab jetzt gehören sie zur zweiten Gruppe, den Enten. Diese unterteilen sich in Pati- und Kli-. Die Patienten sind die Horrorkunden der Krankenkassen und verteuern das Gesundheitssystem. Die Klienten sind die Hoffnungsgruppe der Sozialarbeit. In zweifacher Hinsicht: Sie werden verwaltet und zu diesem Zweck erforscht. Die Forschung und die Ausbildung der Verwalter geschieht an den Hochschulen. Diese erkennt man daran, dass Hochdeutsch geredet wird und dass sich die Dozierenden und die Studierenden siezen. Die Studierenden diskutieren über den flexiblen Menschen und die Risikogesellschaft, sie erlernen ihr berufliches Instrumentarium und erfahren, wie man Empathie zeigt und sich gleichzeitig abgrenzt. Das berufliche Instrumentarium wird immer neu erweitert; ebenso schafft man, analog zu den Forschungsergebnissen, neue Qualifikationen, die sich werdende und bereits real existierende Sozialarbeiter zusätzlich erwerben können: Diplome und Nachdiplome, Zusatz- und Nebenqualifikationen, auf einer nach oben offenen Skala.

Doch zurück zu den Enten. Die Arbeit mit den Klienten kann zwei verschiedene Auswirkungen haben: Die einen werden mit einem Neustart wieder in die Luft geschleudert, die anderen verbleiben im Ruhezustand am Boden. Dauert Letzterer zu lange, kann es geschehen, dass sie zu Patienten werden. Fliegen sie wieder, qualifiziert, dynamisch und teamfähig, werden sie bald feststellen, dass das Überfliegerprogramm inzwischen stressiger geworden ist. Und dass es zusehends stressiger wird. Womit auch die Möglichkeiten des Absturzes wieder gegeben sind, für die Ehemaligen und für Neue. Entennachwuchs.

1 comments:

simon hat gesagt…

das buch beginnt stark - + steigert sich zudem enorm! her mit dem bedingungslosen grundeinkommen!